Samstag, 27. Mai 2017

Faktenfrei und meinungsstark: Die Samstags-F.A.Z. zum geplanten Urheberrecht

Unter der boulevardesken Überschrift "Heiko Maas macht die freie Presse kaputt" und dem Anreißer "Wenn der Justizminister mit seinem neuen Urheberrecht durchkommt, dann wird es keine freien Zeitungsverlage mehr geben. Kennt der Mann die Verfassung nicht?" wird in der F.A.Z von heute angesichts der geplanten Novelle des Bildungs- und Wissenschaftsurheberrechts ein Frontalangriff auf die Pressefreiheit befürchtet.

Man müsste präzisieren: befürchtet die F.A.Z. einen solchen Angriff. Die 332 anderen Tageszeitungen (Quelle: BDZV) in Deutschland haben offenbar noch nichts davon bemerkt, dass sie in ein paar Wochen alle sterben müssen.

 Der studierte Kulturwissenschaftler Thomas Thiel will in seinem Beitrag im Vergleich zum geltenden Urheberrecht tiefgreifende Änderungen gefunden haben, die allesamt nur darauf zielen, die FAZ und alle andere Zeitungen zu vernichten.

 Und hier hat Thiel dann den Hauptangriff gegen die freie Presse ausgemacht:
 "Der Gesetzentwurf geht aber noch einen Schritt weiter und erlaubt es einem jeden, einzelne Zeitungsartikel der Allgemeinheit zu Bildungszwecken kostenlos zur Verfügung zu stellen. Anders als für wissenschaftliche Publikation, die der Staat teilweise selbst finanziert, dürfen diese Zeitungstexte vollständig benutzt werden. Wer einzelne Zeitungstexte lesen möchte, kann sich diese von Bibliotheken bequem frei Haus zusenden lassen."

 Auf welche Bestimmung des Gesetzentwurfes sich Thiel konkret bezieht, schreibt er nicht. Das ist vielleicht auch gar nicht wichtig, weil es hier allein auf den Schluss ankommt, den er zieht und offenbar unendlich skandalös findet: "Wer einzelne Zeitungstexte lesen möchte, kann sich diese von Bibliotheken bequem frei Haus zusenden lassen."

Hier spätestens ist man ratlos. Offenbar kann man bei Akademikern mittleren Alters eine praktischer Vertrautheit mit der Fernleihe nicht mehr voraussetzen. Ansonsten hätte Thiel doch wohl merken müssen, dass man immer schon einzelne Zeitungsartikel über Bibliotheken erhalten konnte. Und zwar völlig legal, wie man in § 53a Abs. 1 S. 1 UrhG nachlesen kann: "Zulässig ist auf Einzelbestellung die Vervielfältigung und Übermittlung einzelner in Zeitungen ... erschienener Beiträge ... im Wege des Post- oder Faxversands durch öffentliche Bibliotheken, sofern die Nutzung durch den Besteller nach § 53 zulässig ist." Nach § 53 Abs. 2 S. 1 Nr. 4a UrhG darf jedermann einzelne Beiträge die in Zeitungen erschienen sind kopieren oder kopieren lassen.

Damit steht der bequemen Zusendung von Presseartikeln frei Haus durch Bibliotheken nichts mehr im Wege - nach geltendem (!!!!) Recht. Und wo ist jetzt der Skandal??

 Mit solchen Feinheiten hält sich Thiel nicht weiter auf und geht etwas zusammenhanglos auf (zur Recht!) als anstößig empfundene Geschäftsmodelle von Großverlagen ein, um danach wieder zu seinem Pressethema zu kommen: "Im Zuge der Reform soll die Deutsche Nationalbibliothek (DNB) in eine Art riesigen Pressekiosk verwandelt werden, der – Grundgesetz hin, Reform her – ohne Einverständnis der Eigentümer alle jemals veröffentlichten Zeitungstexte gratis anbieten darf."

 Ähm. Ja. Es ist üblich, dass Kulturnationen Verlage und Pressehäuser verpflichten, kostenfrei Pflichtexemplare an ihre Landes- und Nationalbibliotheken zu liefern. Das ist auch in Deutschland jahrzehntelange Praxis und seit über dreißig Jahren verfassungsrechtlich durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Seit zehn (!!) Jahren sind überdies auch elektronische Publikationen im Internet ablieferungspflichtig. Hier ist also wiederum gar nichts neu.

 Wirklich neu ist allerdings diese Norm, künftig § 16a Abs. 2 DNB-Gesetz, die Thiel vermutlich im Blick hat: "Die Bibliothek darf im Auftrag eines Nutzers Werke oder andere nach dem Urheberrechtsgesetz geschützte Schutzgegenstände für die nicht-kommerzielle wissenschaftliche Forschung zur Erleichterung von Zitaten vergütungsfrei vervielfältigen und unter einer dauerhaft gleichbleibenden Internetadresse öffentlich zugänglich machen. Dies gilt nur, wenn die Werke und sonstigen Schutzgegenstände ohne Beschränkungen, insbesondere für jedermann und unentgeltlich, öffentlich zugänglich sind und ihre Zugänglichkeit nicht dauerhaft gesichert ist.“ (Quelle: Regierungsentwurf, S. 16.)

 Hier geht es darum, dass die DNB zur Absicherung und Nachprüfbarkeit von Zitaten freie Netzressourcen (ob diese frei zugänglich sind, entscheidet der Urheber!) dauerhaft speichern und zugänglich machen darf. Diese Bestimmung ist auf Presseerzeugnisse, sofern es sich nicht um kostenfreie reine Online-Zeitungen handelt, allerdings NICHT anwendbar, weil die Zugänglichkeit jedenfalls über die in Bibliotheken gesammelten Printexemplare dauerhaft gesichert ist.

Und wo ist jetzt wieder das Problem? Die von Thiel in seinem Artikel angeprangerten Zustände sind entweder schon teilweise jahrzehntelang geltendes Recht oder stehen im neuen Gesetz gar nicht drin. Diese Gesetz, so lesen wir, hat das "Justizministerium [übrigens] ... an den federführenden Rechtsausschuss verwiesen, der am kommenden Montag seine letzte Anhörung" durchführt. Dass es im Gesetzgebungsverfahren ohnehin in der Regel nur EINE Anhörung gibt, weswegen hier von einer "letzten Anhörung" zu sprechen doch etwas dramatisch klingt, ist geschenkt, aber ein Justizministerium kann überhaupt nichts an den Rechtsausschuss verweisen. Das tut das Plenum des Bundestages. Der Gesetzentwurf selbst wurde übrigens nicht von Herrn Maas beschlossen, sondern vom gesamten Bundeskabinett. Nicht nur im Urheber-, sondern auch im Staatsrecht nimmt es der Beitrag mit den Fakten nicht so genau.

Thiel schließt mit einer Lobeshymne auf die Pressefreiheit und ihre Unverzichtbarkeit, weil "ein demokratischer Rechtsstaat eine solide Informationsbasis braucht, wenn er nicht in der Flut von Meinungsrobotern und Falschbotschaften ertrinken will ..." Was soll man nach der Lektüre dieses Beitrages von der F.A.Z. halten? Eine "solide[n] Informationsbasis" jedenfalls stellt man sich irgendwie anders vor.