Die These, dass generative KI dazu führt, dass der Fachaufsatz, den ich lesen möchte, nicht mehr vorab geschrieben, sondern auf Anfrage individuell erzeugt wird, berührt einen tiefgreifenden Wandel in der Wissensproduktion. Sie beschreibt nicht weniger als den Übergang von einem publikationsbasierten zu einem abfragebasierten Wissenschaftsmodell – von der tradierten Zeitschriftenkultur hin zu einer personalisierten Wissensgenerierung. Die Implikationen für Fachzeitschriften und das wissenschaftliche Arbeiten insgesamt sind erheblich.
I. Der Fachaufsatz als dynamisches Produkt
Bisher war der wissenschaftliche Aufsatz eine feste Einheit: einmal verfasst, begutachtet, publiziert und zitiert, wurde er Teil des Kanons. Er war Ausdruck einer spezifischen Forschungsperspektive zu einem bestimmten Zeitpunkt. Generative KI unterläuft dieses Modell, indem sie Inhalte in Echtzeit synthetisieren kann – zugeschnitten auf Thema, Erkenntnisinteresse und Vorwissen des Lesenden. Das „Paper“, das ich heute benötige, muss nicht identisch sein mit demjenigen, das jemand anderes morgen zur gleichen Fragestellung anfordert.
Damit wird der Fachaufsatz zu einem dynamischen, kontextsensiblen Produkt. Die Qualität einer solchen Antwort hängt nicht nur von der zugrunde liegenden Datenbasis, sondern auch von der Prompt-Kompetenz des Nutzers ab. Wissenschaftliches Schreiben verlagert sich vom Autor zum System, wissenschaftliches Lesen wird zum aktiven Akt der Kontextualisierung.
II. Folgen für Fachzeitschriften
Fachzeitschriften drohen durch diese Entwicklung an Relevanz zu verlieren. Wenn wissenschaftliche Texte nicht mehr geschrieben, sondern generiert werden, wird die Zeitschrift als kuratierende Instanz marginalisiert. Ihre Funktion als Qualitätsfilter, Diskursraum und Zitationsanker gerät unter Druck.
Allerdings eröffnen sich auch neue Rollen. Zeitschriften könnten sich als Anbieter von „prompt templates“, als Kuratoren besonders gelungener generativer Antworten oder als Plattformen für die Validierung und Archivierung generierter Texte etablieren. Qualitätssicherung wird sich stärker auf die Verlässlichkeit von Modellen und Datenquellen konzentrieren – und weniger auf einzelne Texte.
III. Wandel des wissenschaftlichen Arbeitens
Auch das wissenschaftliche Arbeiten selbst verändert sich grundlegend. Wenn Erkenntnis nicht mehr im Schreiben, sondern im Prompten besteht, wird die Fähigkeit, kluge Fragen zu stellen, zentral. Der Wissenschaftler wird zum Dialogpartner einer Maschine, der weniger eigene Argumente entfaltet als vielmehr die Bedingungen ihrer kohärenten Darstellung vorgibt.
Gleichzeitig droht eine Erosion wissenschaftlicher Originalität. Wenn generative Systeme auf dem aggregierten Wissen der Vergangenheit basieren, besteht die Gefahr intellektueller Konformität. Innovation entsteht nicht durch Rekombination des Bestehenden, sondern durch das Denken gegen den Strich. Ob Maschinen dazu imstande sind, ist bislang offen.
IV. Fazit
Die skizzierte These beschreibt kein Zukunftsszenario, sondern einen bereits einsetzenden Paradigmenwechsel. Der Fachaufsatz als individuelle, finale Publikation verliert an Bedeutung zugunsten prozesshafter, dialogischer Wissensformate. Fachzeitschriften müssen ihre Rolle neu definieren, das wissenschaftliche Arbeiten verlangt neue Kompetenzen. Ob daraus eine Demokratisierung oder eine Trivialisierung von Wissenschaft erwächst, hängt wesentlich davon ab, wie bewusst wir diese Transformation gestalten.