Zusammenfassung von: Chadwyck-Healey, Sir Charles. „Continuum, Not Revolution.“ In: The New Library Legacy: Essays in Honor of Richard De Gennaro*, herausgegeben von Susan A. Lee, S. 7–16. München: K·G·Saur, 1998.
Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einer riesigen Bibliothek im Jahr 1812, vielleicht in der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg. Sie suchen ein bestimmtes Buch, und der einzige Weg, es zu finden, führt über einen komplizierten Prozess: Zuerst müssen Sie in einem dicken Katalog die Nummer des Buches herausfinden, dann zu einem riesigen Schrank mit den "Guard-Book"-Katalogen gehen, wo Sie die genaue Position erfahren. Anschließend müssen Sie einen Bibliotheksmitarbeiter aufsuchen, der das Buch aus dem Archiv holt. Wie der russische Fabeldichter Krylov feststellte, konnte es Stunden dauern, ein einzelnes Buch zu finden.
Diese Szene mag uns heute fremd erscheinen, aber sie verdeutlicht die Herausforderungen der Informationsbeschaffung in der Vergangenheit. Bibliotheken waren riesige, aber oft schwer zugängliche Schatzkammern des Wissens. Doch der Drang, Wissen zu sammeln, zu organisieren und zugänglich zu machen, ist kein Phänomen der Neuzeit. Es ist ein "Kontinuum, keine Revolution".
Der Pionier der Massenproduktion des Wissens: Abbé Jacques-Paul Migne
Ein herausragendes Beispiel für einen frühen Visionär, der dieses Kontinuum maßgeblich prägte, war Abbé Jacques-Paul Migne, ein katholischer Priester und Verleger aus Paris. Seine Arbeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts mag physisch gewesen sein, aber die Prinzipien, die er anwandte, vorwegnahmen die Konzepte moderner digitaler Datenbanken und der weitreichenden Informationsverbreitung.
Migne gründete 1838 die "Imprimerie Catholique" (Katholische Presse). Sein Ziel war es, seine eigenen Werke zu veröffentlichen und anderen eine Plattform mit einem "freien Markt und einem freien Satz von Werkzeugen" zu bieten. Er war nicht nur ein Drucker, sondern ein brillanter "Marketing- und Vertriebsorganisator". Er verstand, wie man Informationen im großen Maßstab sammelt, verwaltet und verbreitet.
Migne stellte eine riesige Belegschaft ein, darunter viele ungewöhnliche Arbeitskräfte wie "ausgediente Priester aus den am stärksten unterdrückten Schichten der Pariser Bevölkerung" und sogar "entlaufene Schurken und Todesbetrüger". Diese unkonventionellen Rekrutierungen unterstreichen seine Entschlossenheit, die Produktion zu maximieren und die Arbeitskosten zu senken. Dank seiner Methoden konnte er um 1850 täglich 2.000 Bände drucken und produzierte letztlich Hunderte Millionen ungebundener Bücher.
Mignes bekanntestes Werk ist die Patrologia Latina (und die Patrologia Graeca), eine monumentale Sammlung von patristischen und mittelalterlichen Texten. Diese Reihe war ihrer Zeit weit voraus, da sie das Konzept einer "riesigen, kontinuierlichen, elektronischen Datenbank" von Texten vorwegnahm, die auf einheitliche Weise präsentiert und leicht durchsuchbar waren – auch wenn sie physisch in Büchern existierte. Migne sammelte, rationalisierte und formatierte Tausende von lateinischen (und griechischen) Texten, was eine enorme Leistung der bibliographischen Organisation darstellte.
Ein entscheidender Aspekt seiner Produktion war der Umgang mit dem Platz auf der Seite: Migne "zwängte die Wörter auf die Seite, um seine Produktionskosten niedrig zu halten". Dieser Pragmatismus führte zwar zu einem dichten Layout, ermöglichte aber die Massenproduktion und den niedrigen Preis. Moderne elektronische Ausgaben derselben Patrologia, so die Quelle, haben diese Platzbeschränkungen nicht mehr und können daher ein eleganteres und haltbareres Layout aufweisen.
Migne war auch ein Meister der Preisstrategie und des Direktmarketings. Er bot Bücher zu unterschiedlichen Preisen an, je nach Abnahmemenge:
* Ein Kloster konnte 1.000 Bände für 6 Francs pro Band kaufen.
* Eine Bestellung von 200 Bänden kostete 7 Francs pro Band.
* Einzelne Bände waren für 10 Francs erhältlich.
Er nutzte auch Abonnementmodelle, bei denen er Bände nach Zahlung jeder Rate versandte. Diese aggressive Preisgestaltung und die "Direct-Mail-Merchandising"-Techniken waren darauf ausgelegt, die Bücher so weit wie möglich zu verbreiten und Mignes Ziel der "universellen Zugänglichkeit" von Informationen** zu verwirklichen.
Der stille Wandel nach Migne: Mikrofilm und CD-ROMs
Mignes Arbeit zeigte, wie Massenproduktion und effektive Verteilung Wissen weitreichend demokratisieren konnten. Seine Innovationen legten den konzeptuellen Grundstein für das, was folgte. In den 1970er Jahren setzte sich dieser Wandel fort. Die traditionelle Bibliothek begann sich zu wandeln, als neue Technologien Einzug hielten. Mikrofilm und Mikrofiche waren bahnbrechend, da sie riesige Mengen an Informationen auf winzigem Raum speicherten. Eine einzige Mikrofiche-Karte konnte 24 Bilder oder Seiten enthalten, und ein 4x6 Zoll großer Mikrofilm enthielt 48 Bilder. Die Einführung der CD-ROM in den 1980er Jahren war ein weiterer Meilenstein. Sie konnte ein Vielfaches der Informationen einer Mikrofiche speichern und ermöglichte es den Benutzern, Informationen selbst zu recherchieren, ohne auf Bibliothekspersonal angewiesen zu sein. Diese Entwicklungen waren jedoch keine revolutionären Brüche, sondern eher eine logische Fortsetzung der Bemühungen, den Zugang zu Informationen zu verbessern.
Das digitale Zeitalter: Kontinuum, keine Revolution
Mit dem Aufkommen des Internets und der elektronischen Informationsrevolution stehen wir vor einer scheinbar radikalen Veränderung. Doch der Kern dieses Wandels ist ein „Kontinuum, keine Revolution“. Die Grundfunktionen einer Bibliothek – das Sammeln, Verwalten, Bewahren und Bereitstellen von Informationen – sind im Wesentlichen unverändert geblieben. Was sich geändert hat, sind die Methoden und Werkzeuge, mit denen diese Funktionen erfüllt werden.
Heute können Sie von überall auf riesige Datenbanken zugreifen, und Informationen sind unmittelbar verfügbar. Projekte wie JSTOR, finanziert durch die Mellon Foundation, sind Beispiele dafür, wie Institutionen zusammenarbeiten, um den Zugang zu wissenschaftlicher Literatur zu digitalisieren und zu verbessern. Auch das Verlagswesen hat sich angepasst, mit Verlagen, die elektronische Kopien ihrer Publikationen direkt an Bibliotheken liefern.
Der Aufsatz betont, dass diese Entwicklung nicht bedeutet, dass die alten Paradigmen obsolet sind. Vielmehr sind sie die Grundlage für die neuen elektronischen Formate. Die Bibliotheken von heute sind das Ergebnis einer Evolution, die sich über Jahrhunderte erstreckt, von handgeschriebenen Manuskripten über den Buchdruck bis hin zu den digitalen Datenbanken.
Fazit
Migne ist ein leuchtendes Beispiel dafür, dass die Grundsätze des Zugangs, der Bewahrung und der Verbreitung von Wissen zeitlos sind. Seine Innovationen, obwohl technologisch anders, legten den Grundstein für die elektronische Revolution, die wir heute erleben. Der Wert von Bibliotheken und die Bedeutung von Information bleiben bestehen, auch wenn sich die Art und Weise, wie wir darauf zugreifen, ständig weiterentwickelt. Es ist ein faszinierendes Kontinuum des Wissens, das sich an neue Technologien anpasst, ohne seine grundlegende Mission zu verlieren. Die Bibliothek ist nicht tot; sie entwickelt sich weiter, um den unbegrenzten Durst nach Wissen zu stillen.