S. 157
„Wenn die Menschen in der wissenschaftlichen Fabrik arbeiten und nutzbar werden sollen, bevor sie reif sind, so ist in Kurzem die Wissenschaft ebenso ruinirt, wie die allzuzeitig in dieser Fabrik verwendeten Sclaven. Ich bedaure, dass man schon nöthig hat, sich des sprachlichen Jargons der Sclavenhalter und Arbeitgeber zur Bezeichnung solcher Verhältnisse zu bedienen, die an sich frei von Utilitäten, enthoben der Lebensnoth gedacht werden sollten: aber unwillkürlich drängen sich die Worte ‚Fabrik, Arbeitsmarkt, Angebot, Nutzbarmachung‘ ... auf die Lippen, wenn man die jüngste Generation der Gelehrten schildern will.
Die gediegene Mittelmässigkeit wird immer mittelmässiger, die Wissenschaft im ökonomischen Sinne immer nutzbarer.
Wollt ihr die Wissenschaft möglichst schnell fördern, so werdet ihr sie auch möglichst schnell vernichten; wie euch die Henne zu Grunde geht, die ihr künstlich zum allzuschnellen Eierlegen zwingt. Gut, die Wissenschaft ist in den letzten Jahrzehnten erstaunlich schnell gefördert worden: aber seht euch nun auch die Gelehrten, die erschöpften Hennen an. Es sind wahrhaftig keine ‚harmonischen‘ Naturen: nur gackern können sie mehr als je, weil sie öfter Eier legen: freilich sind auch die Eier immer kleiner (obzwar die Bücher immer dicker) geworden.
Als letztes und natürliches Resultat ergiebt sich das allgemein beliebte ‚Popularisiren‘ ... der Wissenschaft, das heisst das berüchtigte Zuschneiden des Rockes der Wissenschaft auf den Leib des ‚gemischten Publicums‘ ...
Goethe sah darin einen Missbrauch ... Den älteren Gelehrten-Generationen dünkte überdies ein solcher Missbrauch aus guten Gründen schwer und lästig: ebenfalls aus guten Gründen fällt er den jüngeren Gelehrten leicht, weil sie selbst, von einem ganz kleinen Wissens-Winkel abgesehen, sehr gemischtes Publicum sind und dessen Bedürfnisse in sich tragen. Sie brauchen sich nur einmal bequem hinzusetzen, so gelingt es ihnen, auch ihr kleines Studienbereich jener gemischt-populären Bedürfniss-Neubegier aufzuschliessen. Für diesen Bequemlichkeitsakt praetendirt man hinterdrein den Namen ‚bescheidene Herablassung des Gelehrten zu seinem Volke‘: während im Grunde der Gelehrte nur zu sich, soweit er nicht Gelehrter, sondern Pöbel ist, herabstieg.
S. 158-160
Quelle: Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders., Unzeitgemäße Betrachtungen, 6. Aufl., Stuttgart 1976 (Kröners Taschenausgabe ; 71).