Was genau unter Bibliothekswissenschaft zu verstehen ist, ist ein geradezu klassischer Gegenstand der bibliothekarischen Fachdiskussion. Mehrheitlich sucht man gegenwärtig wohl die Nähe zu einer datengetriebenen Informationswissenschaft, früher waren es mehr die historischen Kulturwissenschaften, denen das bibliothekswissenschaftliche Interesse galt.
Die wenigsten werden sich wohl mit der Ansicht von Werner Thieme anfreunden können, wonach Bibliothekswissenschaft ähnlich wie die Polizeiwissenschaft eine besondere Verwaltungslehre und damit Teil der allgemeinen Verwaltungswissenschaft sei, vgl. Thieme, Verwaltungslehre, 4. A., Köln (u.a.) 1984, Rn. 15.
Dieser Ansatz soll hier nicht vertieft werden, gibt aber ein gutes Stichwort, auch einmal verwaltungswissenschaftliche Stimmen zu hören und zu bedenken.
Sehr anregend ist hier ein mittlerweile 50 Jahre alter Aufsatz von Oberregierungsrat Niklas Luhmann, damals noch ohne Doktor, der über Sinn und Grenzen, betriebswirtschaftliche Modelle in die Verwaltungswissenschaft zu integrieren, nachgedacht hat (N. Luhmann, Die Grenzen einer betriebswirtschaftlichen Verwaltungslehre, in: Die Verwaltung 1965, S. 303-313).
Luhmann sah keine echte Integrationsmöglichkeit für BWL-Modelle, weil es mit der Verwaltungslehre an gemeinsam geklärten Begriffen und Theorien fehle. Solche Begriffe seien aber notwendig, damit die Wissenschaft ihre Funktion, “Mythen” und überhaupt die praktische Arbeit der Verwaltung kritisch zu analysieren, überhaupt erfüllen könnte.
Die bloße Übernahme von BWL-Modellen sei eigentlich keine Wissenschaft und theoretisch unterkomplex. Luhmann drückt das etwas sanfter und verklausulierter aus, meint aber genau dies. Problematisch sei vor allem, dass die BWL für die Frage, welchen Zwecken und Zielen die Verwaltung zu dienen habe, gar keine Antwort wisse. Was für die Verwaltung allgemein gilt, gilt auch für Bibliotheken, möchte man ergänzen.
Vor dem Hintergrund der Luhmann'schen Ausführungen stimmt die gegenwärtige Situation, in der Vertreter unterschiedlich bezeichneter, für Bibliotheken und ihre Dienstleistungen zuständiger Fächer an den Hochschulen ihre theoretisch Energie meist darauf beschränken, Modelle aus der BWL oder aus anderen Disziplinen mehr oder weniger affirmativ auf das Bibliothekswesen zu übertragen und dies dann als wissenschaftlichen Beitrag zur Weiterentwicklung des Bibliothekswesens verstehen, etwas nachdenklich.
Nach Luhmann wäre das wohl nur eine Wissenschaftssimulation.
Was drigend nötig wäre, ist eine kritische Diskussion über Sinn und Auftrag von Bibliotheken. Eine Antwort auf diese Frage kann die Bibliothekswissenschaft nur bei sich selbst, aber nicht in den Lehr- und Handbüchern der BWL oder der Informationswissenschaft finden. Vielleicht liegt genau hier der archimedische Punkt, vom dem aus das Unternehmen “Bibliothekswissenschaft” als eigene Disziplin einen sicheren Ausgang nehmen könnte.