Freitag, 14. Januar 2022

Hans Ulrich Gumbrecht zur Krise der Geisteswissenschaften

Der in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht hat am 11. Mai 2015 im Rahmen der HRK-Jahresversammlung einen viel beachteten Festvortrag über das Thema "Die ewige Krise der Geisteswissenschaften - und wo ist ein Ende in Sicht?" gehalten.

Der Vortrag ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Zum einen zeigt er eine gewisse Aussensicht auf das manchmal sehr deutsche Phänomen der "Geisteswissenschaften", zum anderen vertritt er einige provokante Thesen über den zukünftigen Ort und die zukünftige Rolle der "Humanities" an den Hochschulen.

Gumbrecht beginnt seinen Vortrag recht provokant. Er widerspricht er prominenten Behauptung des Philosophen Odo Marquardt, wonach die Geisteswissenschaften "je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden". Im Gegenteil: Gumbrecht hält sie für recht unerheblich und behauptet, dass das "gebildte Zehntel" der Weltbevölkerung ein plötzliches Verschwinden der Geisteswissenschaften gar nicht bemerken würde.

Unvermeidlich seien Geisteswissenschaften auch insoweit nicht, als die Studierendenzahlen in den Humanities weltweit rückläufig seien. "Man mag sagen wollen, dies sei unverdient, aber auch ein 'unverdienter' Untergang widerspräche der so beliebten These von der 'Unvermeidlichkeit'.“

Für Deutschland stellt Gumbrecht kurz fest, "dass die hohen Investitionen der Exzellenzinitiative weder das Prestige noch die Rankings der deutschen Geisteswissenschaften in irgendeiner Weise verbessert haben." Ja, das kann man vielleicht so sagen, wenn man an Rankings glaubt und auch daran glaubt, dass geisteswissenschaftliche Ergebnisse in relativ kurzen Zeiträumen rezipiert werden und Effekte haben. 

Gumbrecht wird dann wohlig apokalyptisch, hält das Ende der Geisteswissenschaften für nah und plädiert für eine Selbstsubstituierung. Soweit die Einleitung.

Anschließend untermauert er seine düsteren Thesen in fünf Schritten. Er stellt zunächst die Situation in Stanford dar. Dann erhellt er die geschichtliche Situation der Geisteswissenschaften, ihre Entstehung und das heutige Wegfallen ihres ursprünglichen Gründungsimpulses. Im dritten Teil beschreibt er die (um 2015) gegenwärtige Situation Universitäten in globaler Perspektive, die ja das bevorzugtes Biotop der Humanities sind. Im vierten Teil entwickelt er einen normativen Begriff der Geisteswissenschaften, um im fünften Teil mit einigen "provokanten" Vorschlägen für ihre erfolgreiche Selbstsubstituierung zu schließen.

I. Die Humanities in Stanford

Es gehört zur Tradition der amerikanischen College-Ausbildung, dass über alle Fächer hinweg die Studierenden zu Beginn ihrer Studienzeit mit  einem Kanon von etwa 20 "great works" der Literatur und Philosophie bekannt gemacht werden. Dieses seit etwa 1912 bestehende "Rückgrat der Geisteswissenschaften in der College-Ausbildung" wurde in Stanford gestrichen und durch eine von den einzelnen Departments individuell verantwortete Veranstaltung "thinking matters" ersetzt. 

Gumbrecht konstatiert, dass immer weniger Studierende einen Major in den Geisteswissenschaften machen wollen, gleichwohl intellektuell leidenschaftlicher und interessierter geworden seien. Seiner Universität, die in den Rankings (naja ...) in den Humanities eine Spitzenstellung einnimmt, attestiert Gumbrecht eine große Offenheit für diese Fächer. Sehr amerikanisch breitbeinig zitiert er seinen Universitätspräsidenten John Hennessy: "Everything that you Humanities professors can imagine is financially peanuts for us".

Zugleich stellt er fest, "dass auch in Stanford nicht klar wird, was heute – überzeugenderweise – mit der Tradition der Geisteswissenschaften anzufangen ist". Womit Gumbrecht zum zweiten Teil seines Vortrages überleitet.

II. Die Geisteswissenschaften und ihr Weltbild (der "Theorieteil")

Nach Gumbrecht sind die Geisteswissenschaften eine akademische Institution, die es in dieser Form seit dem frühen 19. Jahrhundert gibt. Sie wurzeln in einem Weltbild, dass die Welt immer als ein Form von "Geschichte" beschreibt. Wurde in der Aufklärung die Realität eher in unmittelbarer Wahrnehmung gesehen, so wird sie jetzt als Narration beschrieben, als Geschichte und historische Entwicklung erzählt. 

Daraus entwickelte sich ein "historisches Weltbild", in dem man in der Gegenwart Handlungsmöglichkeiten für eine grundsätzlich offene Zukunft vor dem Hintergrund von Erfahrungen der Vergangenheit auswählt. In dieser Situation wurden die Geisteswissenschaften zu einer Art Theologie ihres Zeitalters (Wolfgang Iser), mit Kultur und Literatur als Religionsersatz und Sinnressource. 

Heute betrachten wir nach Ansicht Gumbrechts mentalitätsgeschichtlich (sic!) die Zukunft anders. Sie ist nicht mehr so offen und vollständig einem geschichtlichen Wandel unterworfen. Sie wird vielmehr durch etliche, unausweichliche Gefahren wie Klimawandel und dergleichen geprägt. Der aus der Vergangenheit kommende Handlungsfaden lässt sich nicht mehr so einfach in eine offene Zukunft hinein fortsetzen.

Damit unterscheidet sich das historische Weltbild, dass die Entstehungsprämisse der Geisteswissenschaften war, von unserem aktuellen Weltbild. Und das wirkt auf die Plausibilität und auch die Relevanz des geisteswissenschaftlichen Projekts insgesamt zurück.

Im Rahmen dieser Thesen geht Gumbrecht auch auf einige historische Positionen und Arbeitsweisen der Geisteswissenschaft ein. So bezeichnet er den permanenten Krisendiskurs der Geisteswissenschaften als eine Überlebensstrategie in einer gesellschaftlichen Situation der Skepsis. Er geht auf ihre "ideologischen Dienstleistungen" vor allem in der Zwischenkriegszeit ein, sieht eine "quietistische Haltung" in der Nachkriegszeit mit einer produktiven Konzentration auf Texte und spricht die darauf folgende "Theorie-Explosion" an, die merkwürdigerweise seit den 90er Jahren praktisch zum Erliegen gekommen ist. Etwas schelmisch merkt er an, dass offenbar dies mal wieder Ausdruck einer Krise sei, doch scheint eine neuerliche Berufung auf eine weitere Krise der Geisteswissenschaften als Überlebensstrategie nicht mehr so recht zu funktionieren.

Gumbrecht belässt es bei diesen skizzenhaften, für die Zwecke einer Festrede schon reichlich herausfordernden und angesichts eines Publikums, das sich aus allen akademischen Disziplinen zusammensetzt, auch reichlich voraussetzungsreichen Gedanken und wendet sich nun, wieder konkreter werdend, der gegenwärtigen Situation der Geisteswissenschaften und der Universitäten zu.

III. Die gegenwärtige Universität und die Geisteswissenschaften

Gumbrecht stellt zunächst fest, dass die Universität - global gesehen - als ein Ort der Berufsausbildung angesehen wird, verbunden mit einer fortgesetzten sozialen Öffnung. In ihrer überkommenen Gestalt werden sie damit offenbar überflüssig, jedenfalls fragwürdig: "Die neue Möglichkeit, die Universität synonym zu setzen mit Berufsausbildung, wird verstärkt durch die elektronischen Technologien. Sehr viel von dem, was als 'Berufsausbildung' gilt, kann heute elektronisch – und also auf sehr kostensparende Weise – verabreicht werden."

Kritisch sieht er zudem eine Tendenz, Forschung und Lehre zu entkoppeln und die Befreiung von Lehrverpflichtungen gleichsam als "Privileg" zu betrachten und als "Bonus" für exzellente Forschungsleistungen zu verstehen.

Nach diesen Eingangsbemerkungen stellt Gumbrecht einige Merkmale besonders erfolgreicher Universitäten heraus, nämlich:

1. Diese Universitäten haben die Freiheit, ein eigenes Profil zu entwickeln.

2. Diese Universitäten suchen sich ihre Studierenden und Lehrenden "nach ausschließlich intellektuellen Kriterien" aus.

3. Diese Universitäten finden sich meist in kleineren Städten (das gilt vor allem für die in Rankings am meisten aufgestiegenen Universitäten).

4. Diese Universitäten pflegen eine Campus-Idee "im Sinne von Präsenz anstatt eines downloading auf die elektronische Kommunikation, an deren logischem Ende die Aufhebung der Präsenzpflicht steht".

5. Diese Universitäten haben die Struktur einer Technischen Universität, sind also auf Naturwissenschaften, Technikwissenschaften oder auf Wirtschaftswissenschaften fokussiert, "aber mit einer kleinen, in ihrer Qualität sehr hohen geisteswissenschaftlichen Fakultät".  

Das also ist das Umfeld, in dem die traditionellen Geisteswissenschaften sich heute als universitäre Veranstaltung zu bewähren haben.

IV. Was sollen Geisteswissenschaften heute leisten?

Gumbrecht sieht der Rolle der Humanities gerade an den technisch geprägten, also den erfolgreichen Universitäten darin, Komplexität zu erzeugen: "Durch die Gegenwart der Geisteswissenschaften werden der Fortschrittsglaube ebenso wie der Ewigkeitsglaube der Naturwissenschaften, der Ingenieurwissenschaften komplexer."

Hier zitiert er wieder John Hennessy: "The Humanities produce the intellectual ring, the intellectual buzz of the universities". Oder anders formuliert: "Universities would not be intellectual places without the Humanities."

Gumbrecht geht anschließend, was bei einer Festrede über Geisteswissenschaften an der Universität ja fast unvermeidlich ist, auf Wilhelm von Humboldts berühmtes Memorandum zur Gründung einer Universität zu Berlin von 1809/10 ein, das er bei aller Zeitgebundenheit immer noch sehr inspirierend findet. Nach Humboldt soll die Universität ein "Ort geistiger Innovation" sein. Für die Finanzierung bedeutet dies: "der Staat habe die Verpflichtung, die Universitäten zu alimentieren ..., ohne dass es im Interesse des Staates liegen könne, der Universität Vorschriften zu machen. Denn in dem Moment, wo der Staat beginnt zu sagen, was geforscht und herausgefunden werden soll, ist das Wissen, das produziert wird, ja bereits ein vorweggenommenes Wissen". Für das Mindset der Universität folgt daraus, dass Innovation nur aus einer besonderen Form von Enthusiasmus der Studierenden und der Professorinnen und Professoren gemeinsam entstehen kann. 

Daraus zieht Gumbrecht an Schluss, "dass die Universität kein Ort geistiger Innovation sein kann, wenn sie Lehre und Forschung auf Distanz setzt, wenn die besten und qualifiziertesten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer mehr in Sonderforschungsbereichen, in Max-Planck-Instituten, Käte-Hamburger-Instituten arbeiten".

Damit kommt Gumbrecht wieder zu seiner zentralen These, dass die Funktion der Geisteswissenschaften an einer erfolgreichen Universität darin besteht, Fragen aufzuwerfen und den Blick auf die Welt komplexer und komplizierter zu machen. Um Lösungen für irgendwelche Probleme, wie von ihnen ja oft gefordert wird, geht es dabei überhaupt nicht.

V. Einige Vorschläge zur Selbstsubstitution der Geisteswissenschaften

Im letzten Teil seiner Festrede wird Gumbrecht konkret und macht einige Vorschläge für die von ihm geforderte sinnvolle Selbstsubstitution der Geisteswissenschaften angesichts ihrer gegenwärtigen Krise.

Geisteswissenschaften sollen nicht primär in der Funktion als berufsausbildende Fächer gelehrt werden. Er wirbt für eine College-Idee, aufgrund derer Studierende aller Fächer mit geisteswissenschaftlichen Themen und Fragestellungen im Sinne einer intellektuellen Herausforderung in Berührung kommen sollen. "Das wäre kein geisteswissenschaftliches Fachstudium, sondern eine Erinnerung an den Horizont der Bildung als positive Geste einer Selbstsubstitution".

Geisteswissenschaften betreiben keine Forschung im Sinne der Naturwissenschaften: "Was wir Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler wirklich tun, wenn wir nicht lehren und wenn wir unsere Lehre vorbereiten, das wäre wohl besser beschrieben mit einem Begriff, der starke theologische, ja religiöse Konnotationen hat, die ich jetzt aber einklammern möchte – nämlich mit dem Begriff der Kontemplation". Dabei geht es um die absolute Konzentration auf einen bestimmten Gegenstand - was gelehrt und trainiert werden muss! Zur Kontemplation gehört auch die Reiteration, und genau dadurch wird die Sicht auf die Welt und die Dinge komplexer, worin ja nach Gumbrecht die besondere Leistung und Funktion der Geisteswissenschaften liegen soll.

Geisteswissenschaften kann man nur in Verbindung mit lebendiger Lehre erfolgreich betreiben. Eine dauerhafte Distanz von Studierenden sei schädlich für geisteswissenschaftliches Denken und Arbeiten.

Geisteswissenschaften sollten weniger kritisch und analytisch vorgehen, sondern gerade in der Lehre mehr "deiktisch" sein und Begeisterung für den Gegenstand vermitteln. 

Schließlich wirbt Gumbrecht dafür, "den geheimen Status der Geisteswissenschaften als einen Ort des akkumulierten Ressentiments aufzuheben. Vielleicht hat jene beständige Verpflichtung zum Kritisch-Sein dazu geführt, dass die Geisteswissenschaften manchmal zu einem Sumpf werden, aus dem nichts als Verschwörungstheorien hervorgehen ..."

Er beendet seinen Vortrag mit einer bösen Breitseite gegen teuer institutionalisierte Exzellenzforschung: "viel billiger als Sonderforschungsbereiche oder Max-Planck-Institute käme, wenn Sie einige hochqualifizierte Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler einfach daran erinnern, wieder einmal ein Seminar für kleine Gruppen zu lehren. Kleinere Gruppen von Studierenden – das ist ja nicht nur eine bedrohende Zukunftsvision". 

Fazit

Gumbrechts Vortrag ist sehr anregend. Man muss ihm nicht in allen Punkten zustimmen. Aber sein Plädoyer, die Humanities in ihrer Eigenart und nicht nach dem Modell von forschenden Naturwissenschaften zu denken und sie auch als akademische Lebensform wieder mehr kultivieren, hat etwas. Man könnte hier noch etwas weiter fragen, ob dafür einzig und allein die Universität ein angemessener Ort ist oder ob nicht auch und gerade die digitalen Möglichkeiten, die Gumbrecht eher als billige Substitution von Funktionslehre sieht, neue Orte und Situationen geisteswissenschaftlichen Enthusiasmus und geisteswissenschaftlicher Kontemplation entstehen lassen. Das wäre auch nicht ohne historisches Vorbild.  Humanisten wie Erasmus von Rotterdam, die ihr intellektuelles Leben im Kontext neuer medialer Möglichkeiten (Buchdruck!) entfaltet haben, könnte man hier nennen. Für diese Art der Humanities wäre weniger das 19. Jahrhundert, sondern mehr die Renaissance Vorbild und Anregung. 

Video-Hinweis

Wer in kurzer Form Gumbrechts Thesen von ihm selbst vorgetragen hören und sehen möchte, dem sei ein kurzes Video aus Anlass seiner Ehrenpromotion an der Leuphana 2017 empfohlen:

https://www.youtube.com/watch?v=yZex0Pfh-do