Donnerstag, 12. Juni 2025

Zerfaserung der Öffentlichkeit? – Digitale Medien, verlorene Räume und die Bedeutung kultureller Institutionen

Es ist eine vielzitierte und ebenso oft verdrängte Diagnose unserer Zeit: Der gesellschaftliche Zusammenhalt erodiert. Zwar sind wir digital immer erreichbarer, ständig verbunden, scheinbar allgegenwärtig in Netzwerken, Streams, Chats und Feeds – doch zugleich entfremdet sich das Gemeinwesen von seiner eigenen Idee. Der öffentliche Raum, jene räumlich-soziale und kulturell geteilte Sphäre, in der Menschen einander begegnen, streiten, lernen, beten, feiern und erinnern, schrumpft. Oder besser: Er fragmentiert. In dieser Entwicklung verflechten sich zwei Großtrends unserer Epoche – die digitale Medienrevolution und die stille Aushöhlung unserer analogen Räume der Gemeinsamkeit. Es ist höchste Zeit, beides nicht mehr getrennt zu betrachten.

Vom Gemeinwohl zur Mikroöffentlichkeit

Der erste Treiber dieser Entwicklung ist offenkundig: Die Digitalisierung hat unser Medienverhalten fundamental verändert. Generative Künstliche Intelligenz liefert auf Knopfdruck individualisierte Antworten. Das mag bequem sein, ist oft hilfreich, manchmal sogar beeindruckend – aber es fördert einen epistemischen Solipsismus. Während früher Zeitung, Buch und Zeitschrift kollektive Diskursräume eröffneten, auf die sich viele zugleich beziehen konnten, entstehen heute private Echokammern. Jeder hat seinen eigenen Feed, seinen eigenen Stream, seine eigene Wirklichkeit. Der neue Mediennutzer ist ein Kurator seiner eigenen Informationswelt, gelenkt von Algorithmen, die mehr über seine Vorlieben wissen als der Leser selbst.

Hinzu kommt die Dominanz nonlinearer Streamingdienste. Die Öffentlichkeit der Fernsehansage, das synchronisierte Erleben großer Ereignisse im linearen TV – sie weichen einem Kaleidoskop individualisierter Serienwelten. Gemeinsame Referenzen, kulturelle Lagerfeuer wie einst das „Tatort“-Ritual oder das kollektive EM-Schauen, werden zur Ausnahme.

Das stille Verschwinden öffentlicher Räume

Doch auch jenseits der digitalen Sphäre zerbröseln die Orte gemeinsamer Erfahrung. Öffentliche Plätze veröden oder werden durch kommerzielle Interessen okkupiert. Kirchen verlieren rapide ihre Besucher, die sonntägliche Messe ist für viele kein verbindendes Ritual mehr, sondern ein nostalgischer Nachhall einer untergehenden Welt. Bibliotheken, Museen, Theater – all die Orte, an denen Gesellschaft sich selbst reflektiert, sich bildet, streitet und versöhnt – sie sind unterfinanziert, oft infrastrukturell überholt, manchmal politisch vergessen.

Das Ergebnis? Eine Gesellschaft, in der das Gemeinsame nicht mehr geübt wird, weil es keine Bühnen, keine Liturgien, keine Räume mehr gibt, in denen dieses Gemeinsame erfahrbar wäre.

Bibliotheken als öffentliche Labore des Denkens

Gerade Bibliotheken – so sehr sie wie Kirchen unter einem vermeintlichen Bedeutungsverlust leiden – könnten in dieser Gemengelage zu Schlüsselinstitutionen der Zukunft werden. Denn sie sind, im besten Sinne, Orte ohne Konsumzwang, Orte der Stille und des Diskurses, niedrigschwellige Zugänge zu Wissen, aber auch zu Gemeinschaft. Moderne Bibliotheken sind längst keine reinen Bücherdepots mehr, sondern hybride soziale Räume: Makerspaces, Lernzentren, Kulturforen. Sie könnten, mit politischem Willen, zu säkularen Kathedralen der Aufklärung ausgebaut werden.

Kirchen als Räume für das Mehr-als-Nur-Ich

Auch die Kirchen – bei aller berechtigten Kritik an innerkirchlichen Skandalen und Machtmissbrauch – sind nicht obsolet. Wer einmal in einer vollbesetzten Kirche ein Requiem gehört oder im Chorraum eine Kerze entzündet hat, weiß, dass es Räume gibt, die mehr stiften als nur Information: nämlich Sinn, Trost, Transzendenz. Die Entsakralisierung dieser Räume mag säkular notwendig erscheinen, doch sie reißt eine Lücke in die seelische Architektur der Gesellschaft.

Kultureinrichtungen als Bastionen des Gemeinsinns

Museen, Theater, Stadtteilzentren – sie alle tragen zur Verfertigung des Gemeinwohls bei. Nicht als Ort der reinen Repräsentation, sondern als lebendige Bühne für Diversität und Dialog. Ihre strukturelle Vernachlässigung ist politisch kurzsichtig, denn was in der Haushaltslogik als "freiwillige Leistung" gilt, ist in Wahrheit eine unverzichtbare Infrastruktur des Zusammenhalts.

Politische Impulse: Was jetzt zu tun wäre

Erstens: Es braucht eine neue Förderlogik, die Bibliotheken, Museen, Theater und auch Kirchen als tragende Säulen sozialer Kohäsion begreift. Statt diese Einrichtungen als Kostenfaktor zu behandeln, müssen sie als Investition in den sozialen Frieden verstanden werden.

Zweitens: Städteplanung muss den öffentlichen Raum als sozialen Raum mitdenken. Plätze dürfen nicht nur Transitflächen sein, sondern müssen Aufenthaltsqualität und Begegnung ermöglichen – mit Bänken, Bäumen, Bühnen.

Drittens: Bildungs- und Medienpolitik müssen gezielt Räume fördern, in denen gemeinsames Lernen und Denken stattfinden kann – auch und gerade jenseits der Schule. Öffentliche Debattenformate, Stadtgespräche, lokale Diskursarenen gehören in die Mitte der Gesellschaft zurück.

Viertens: Die digitale Infrastruktur muss öffentlich-rechtlich mitgestaltet werden. Ein algorithmischer Pluralismus ist notwendig, damit nicht nur individuelle Bedürfnisse, sondern auch kollektive Diskurse gefördert werden. Eine Art „öffentlich-rechtliche KI“ wäre ein visionärer, aber notwendiger Schritt.

Fazit: Gemeinsamkeit ist kein Zufall

Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht nicht von selbst. Er ist ein Kulturprodukt – fragil, pflegebedürftig, voraussetzungsreich. Die digitale Disruption unserer Kommunikationsweisen und das stille Schrumpfen der öffentlichen Räume sind kein Zufall, sondern Folgen politischer Entscheidungen – oder eben ihrer Unterlassung. Wenn wir nicht bald beginnen, beides zusammen zu denken, wird das „Wir“ in unserer Gesellschaft nicht nur grammatisch, sondern real zur Nebensache. Es ist Zeit, gegenzusteuern – mit Raum, mit Ritual, mit Resonanz.