Kaum ein Berufsbild hat in den letzten hundert Jahren derart unter permanentem Legitimationsdruck gestanden wie das des wissenschaftlichen Bibliothekars. Man hat ihn zum Verwalter erklärt, zur Dienstleistungskraft, zum "Informationsspezialisten", gelegentlich auch – mit einem Hauch von Widerwillen – zum Wissenschaftler. In diesem Deutungswirrwarr ist ein Typus fast vergessen worden, der das Selbstverständnis des Bibliothekars über Jahrhunderte geprägt hat: der Gelehrte. Gerade heute aber, in einer Zeit der algorithmischen Ordnung und digitalen Entkörperlichung, könnte ausgerechnet diese vermeintlich anachronistische Figur zur Antwort auf die Gegenwartsfragen werden. Nicht als nostalgische Reminiszenz, sondern als zukunftsoffene Wiederentdeckung eines alten Ideals: Bibliothekar sein als gelehrte Praxis.
Der Gegensatz: Verwaltung oder Wissenschaft?
Die klassische Kontroverse über das Berufsbild des wissenschaftlichen Bibliothekars folgte lange einem binären Muster: Ist dieser Mensch vor allem ein Verwaltungsfachmann – ein Systemtechniker des Wissens, ein Regelbefolger, ein Ordnungsarchitekt? Oder ist er im Gegenteil ein Wissenschaftler, eingebunden in den akademischen Diskurs, produktiv forschend, dem Universitätsprofessor nicht unähnlich? Beides hat seine institutionellen Begründungen, aber beides lässt etwas Entscheidendes vermissen.
Denn was in dieser Diskussion unter den Tisch fällt, ist jene dritte, historisch gewachsene und kulturell tief verwurzelte Möglichkeit, die in keiner Verwaltungsvorschrift und keinem wissenschaftlichen Drittmittelantrag ganz aufgeht: der Bibliothekar als Gelehrter. Nicht als Wissenschaftler im heutigen Sinne, sondern als jemand, der über Bildung verfügt, weil er liest, weil er schreibt, weil er weiß, was Sprache vermag, und was Literatur meint. Diese Figur ist älter als die Universität, älter als die Bürokratie – sie geht zurück auf die Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts, auf jene gelehrten Bücherfreunde, die Bibliotheken nicht verwalteten, sondern lebten.
Die Philologie als geistige Grundlage
Zentral für dieses Verständnis ist die Rückbindung des Bibliothekars an die Philologie – verstanden nicht im engen Sinne der klassischen Altertumswissenschaft, sondern in jenem umfassenden Sinn, den sie bei den großen Humanisten hatte: als Liebe zum Text, als Aufmerksamkeit für Sprache, als sorgfältige Praxis der Interpretation. Der gelehrte Bibliothekar liest nicht mechanisch, sondern er liest als Philologe: langsam, kritisch, kontextbewusst.
Diese philologische Haltung ist keine bloße Spezialistenkunst, sondern eine Kulturtechnik. Sie bedeutet, dass Texte nicht bloß Informationsträger sind, sondern Bedeutungsgestalten, die verstanden, nicht nur entschlüsselt werden wollen. Der gelehrte Bibliothekar besitzt die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen – und zwischen den Zeiten. Denn ein Buch spricht nicht nur durch seinen Inhalt, sondern durch seine Form, seine Sprache, seine Edition, seinen Standort im Regal. All das erschließt sich nicht durch Metadaten, sondern durch gelehrten Umgang.
Und zu dieser Philologie gehört notwendig auch das Schreiben. Nicht das wissenschaftliche Publizieren um jeden Preis, sondern das Schreiben als Vermittlungspraxis: der Essay, die Annotation, der Katalogtext, die Ausstellungserläuterung, der bibliographische Kommentar. Der gelehrte Bibliothekar schreibt, weil er verstanden hat – und er schreibt, um verstanden zu werden. In seinem Schreiben manifestiert sich die Bildung, die nicht bloß akkumuliertes Wissen ist, sondern gelebte Weltbeziehung.
Die humane Anstalt: Paul Raabes Vermächtnis
Kaum jemand hat dieses Ideal in der jüngeren Vergangenheit so klar und nachhaltig formuliert wie Paul Raabe, jener große Bibliotheksdirektor und Intellektuelle, der die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel zu einem Ort des Denkens und nicht nur der Bestandsverwaltung gemacht hat. Für Raabe war die Bibliothek nicht nur ein Ort der Aufbewahrung, sondern eine humane Anstalt. Diese Formel ist mehr als eine Metapher – sie ist eine institutionelle Vision.
Die humane Anstalt ist kein Servicecenter, keine rein funktionale Einrichtung, sondern ein geistiger Raum, in dem Bücher, Menschen und Ideen miteinander in Beziehung treten. Sie lebt von der Präsenz des Geistes, nicht nur von der Zugänglichkeit der Medien. Und diese geistige Präsenz verkörpert der gelehrte Bibliothekar: nicht als Herrscher über das Wissen, sondern als dessen Vermittler. Nicht als Spezialist für Technik oder Administration, sondern als jemand, der in der Lage ist, kulturelle Tiefe zu erschließen – und anderen dabei zu helfen, es ihm gleichzutun.
Raabe war davon überzeugt, dass die Bibliothek nur dann lebendig bleibt, wenn in ihr nicht bloß gearbeitet, sondern gedacht, gesprochen, gelesen und geschrieben wird. In dieser Tradition ist der gelehrte Bibliothekar kein Fremdkörper, sondern das eigentliche Herz der Institution.
Die Herausforderung der digitalen Transformation
All das wäre schön, aber folgenlos, wenn es bloß um historische Rückbesinnung ginge. Doch der gelehrte Bibliothekar ist gerade heute von höchster Aktualität. Denn die digitale Transformation stellt die Bibliothek nicht nur technisch, sondern anthropologisch in Frage. Wenn Kataloge zu Interfaces, Bücher zu Datenobjekten, Recherche zu Klicksequenzen und Benutzer zu "Nutzern" werden, dann droht der Verlust dessen, was Raabe als Geist der Bibliothek bezeichnete.
Die Digitalisierung verspricht Effizienz, Zugänglichkeit, Verfügbarkeit. Was sie nicht von sich aus liefert, ist Sinn. Algorithmen können Vorschläge machen, aber keine Fragen stellen. Sie erkennen Muster, aber keine Motive. Sie kombinieren Daten, aber sie verstehen keine Argumente. Und sie wissen nichts von Ironie, Ambivalenz oder Metaphern.
Hier nun wird der gelehrte Bibliothekar zum notwendigen Gegenbild – nicht im Sinne des Technikverweigerers, sondern des kritischen Humanisten. Er kann mit digitalen Werkzeugen umgehen, aber er weiß, dass das Entscheidende nicht in der Toolkompetenz liegt, sondern in der Urteilsfähigkeit. Er ist derjenige, der die semantische Tiefe hinter der syntaktischen Oberfläche bewahrt, der Begriffe klärt, Kontexte aufzeigt, Unterschiede kennt – kurz: der nicht nur weiß, wie man etwas findet, sondern warum es sich zu finden lohnt.
Die Bibliothek als Ort der Bildung – nicht nur der Information
In dieser Perspektive ist die Bibliothek mehr als ein Dienstleistungsort – sie ist ein Bildungsraum. Und Bildung ist nicht dasselbe wie Information. Bildung geschieht durch Lektüre, durch Gespräch, durch Nachdenken – durch die Praktiken, in denen sich der gelehrte Bibliothekar auszeichnet. Er steht nicht zwischen den Menschen und den Büchern, sondern mitten unter ihnen. Er zeigt nicht bloß, wo etwas steht – er hilft zu verstehen, was da steht. Und was es bedeutet.
Der gelehrte Bibliothekar ist damit weder ein besserer Verwaltungsfachmann noch ein gescheiterter Wissenschaftler. Er ist ein Dritter: ein gebildeter, sprechender, schreibender Mensch, der in der Tradition der Philologie steht und zugleich die Herausforderungen der Gegenwart annimmt. Er ist der lebendige Beweis dafür, dass auch im digitalen Zeitalter Bildung nicht nur über Interfaces, sondern über Menschen vermittelt wird.
Fazit: Der gelehrte Bibliothekar ist kein Anachronismus, sondern ein kultureller Zukunftsentwurf
Was heute aussieht wie eine Rückkehr zu alten Idealen, ist in Wahrheit ein Fortschritt zu einem neuen Selbstverständnis. Der gelehrte Bibliothekar ist die notwendige Ergänzung zur digitalen Bibliothek. Er bringt Tiefe in die Breite, Kontext ins Chaos, Bedeutung in die Menge. Und er erinnert uns daran, dass eine humane Anstalt nicht durch Technik entsteht, sondern durch Geist.
Vielleicht wird die Zukunft der Bibliotheken digital sein – aber wenn sie nicht auch gelehrt ist, dann wird sie nicht human sein. Und ohne das, wäre sie nicht einmal mehr Bibliothek.