"Singt Gott in eurem Herzen Psalmen, Hymnen und Lieder, wie sie der Geist eingibt ..." So schreibt Paulus im Kolosser-Brief.
Dieser in der Fassung der Einheitsübersetzung wiedergegebene Text wird gemeinhin als biblischer Beleg für Gesang und Musik im Gottesdienst angesehen, so im Katechismus der Katholischen Kirchen (KKK 1156) oder im Vorwort zur Paderborner Ausgabe des neuen Kirchengesangbuches "Gotteslob".
Darüberhinaus scheint dieser Vers auf eine spontane Gebets- und Liturgiepraxis in den frühen Gemeinden hinzudeuten, die man in der Liturgiewissenschaft gemeinhin als "euchologische Freiheit" bezeichnet und dem rubrizistisch geregelten und damit textlich erstarrten Gottesdienst als vorzugswürdigere Frühform christlichen Betens gegenüberstellt. Tatsächlich suggeriert der Halbsatz “wie der Geist sie eingibt” eine Situation spontanen Formulierens im unmittelbaren Gebetsvollzug.
Überraschend ist der Blick in den griechischen Urtext:
"ψαλμοῖς ὕμνοις ᾠδαῖς πνευματικαῖς … ᾄδοντες ἐν ταῖς καρδίαις ὑμῶν τῷ θεῷ"
Hier ist bloß von "ᾠδαῖς πνευματικαῖς" also von "geistlichen Liedern" die Rede, die gleichwertig neben die Psalmen und Hymnen gestellt werden. Folglich übersetzt auch die Vulgata: "psalmis, hymnis, canticis spiritalibus".
Von einer Wertschätzung spontanen Betens ist hier nichts zu finden. Eher scheint es darum zu gehen, bestimmte Gebetstexte hervorzuheben, allen voran die Psalmen, die ja als inspiriertes Wort Gottes gelten. Die Hymnen kann man daneben durchaus als biblische poetische Texte außerhalb des Psalters deuten. Ihnen gleich stehen "geistliche Lieder", wobei das Adjektiv "πνευματικóς" auch als "vom Heiligen Geist gewirkt" verstanden werden kann.
Aber sind damit tatsächlich neue, vor allem aber spontan gebildete Lobgesänge gemeint? Immerhin bezieht der Katechismus diese Stelle ausdrücklich auf neue, von den jungen Gemeinden verfasste Texte (KKK Nr. 2641).
Klar ist zunächst, dass das christliche Beten jedenfalls bei den Psalmen, vermutlich auch bei den Hymnen in einem Nachvollzug vorgegeber Texte besteht. In diesem Kontext müssen auch die "geistlichen Lieder" gesehen werden, die den vorgenannten Texten offenbar gleichstehen, dann aber auch eine vergleichbare pneumatologische Substanz haben müssen, vgl. im Ergebnis Mußner, Der Brief an die Kolosser, Düsseldorf 1965 (Geistliche Schriftlesung ; 12), S. 88. Viel spricht dafür, dass diese Eigenschaft gerade nicht spontanen Eingebungen zukommt, sondern einem Corpus mehr oder weniger feststehender Texte.
In dieser Sicht ist Kol 3, 16 kein Zeuge für eine frühchristlich euchologische Freiheit, die übrigens ritualtheoretisch alles andere als unproblematisch ist, sondern für eine vorgegebene Inhalte nachvollziehende, bedenkende und meditierende Liturgie.
Der Katechismus betont übrigens, das "Lesen" der Psalmen (KKK Nr. 2641): "librum relegunt Psalmorum in eis Christi canentes mysterium". Man darf dies als Hinweis für den Lektürecharakter des Psalmengebetes und die Eigenschaft der Liturgie, performante nachvollziehende Lektüre (relecture!) zu sein verstehen. Eine solche Lektüre freilich ist gerade nicht spontan, sondern setzt sich bewusst den Zumutungen vorgegebener Formulare aus.
Die deutsche Übersetzung in der Fassung der Einheitsübersetzung lässt davon nichts sichtbar werden, ja führt durch den Relativsatz sogar auf eine falsche Fährte. Angemessener wäre der Vers daher wie folgt zu übersetzen:
"Singt Gott in eurem Herzen Psalmen, Hymnen und Lieder, die der Geist eingegeben hat …"