Seit einigen Monaten finden sich immer wieder Berichte in den Medien, dass insbesondere skandinavische öffentliche Bibliotheken damit kokettieren, kaum noch Bücher zu haben und sich stattdessen modern und zeitgemäß als Begegnungszentren, Maker-Spaces und dergleichen mehr präsentieren.
Es fehlt hierzulande nicht an Stimmen, auch und gerade von bibliotheksoffizieller Seite, die diese Entwicklung als Vorbild für die öffentlichen Bibliotheken begrüßen. Der Grund dafür ist einsichtig: Endlich scheint man mit den nach skandinavischem Vorbild transformierten Bibliotheken einen Ausweg aus der durch das Internet und die dort enthaltene Fülle an Informationen drohenden Bedeutungslosigkeit gefunden zu haben.
So weit, so gut, so falsch.
Zwar stimmt es, dass die alte Bücher-Bibliothek sehr viele ihrer Funktionen unwiederbringlich an das Internet verloren hat. Zum Nachschlagen und kurzen Informieren reichen die Online-Angebote in 99,9% aller Fälle mehr als aus. Das bedeutet aber nicht, dass man nun 3D-Drucker und Internetcafés mit Infotheke betreiben muss, um das vorhandene bibliothekarische Personal bis zur Rente noch irgendwie sinnvoll einzusetzen. Oder doch? Tatsächlich scheint ein wesentlicher Grund für die positive Grundstimmung den skandinavischen Entwicklungen gegenüber mehr eine Mentalität der Besitzstandwahrung, als eine in der Sache begründete Notwendigkeit zu sein. Wenn einem nun die Felle der Bücherwelt davonschwimmen, sucht man eben nach einem anderen Geschäftsfeld, das lustigerweise immer noch "Bibliothek" genannt wird. Sentimentalität kann manchmal sehr konservativ sein.
Wenn wir diese neuen Kultur- und Begegnungszentren aber weiterhin “Bibliothek” nennen, ist das allerdings kein Ausdruck einer zukunftsfesten Weiterentwicklung, sondern eine semantische Verschleierung.
Es ist nämlich schlicht falsch, dass es in Zukunft keine Bücher mehr gibt und sich die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Institutionen, die einen öffentlichen Buchbesitz zur allgemeinen Benutzung vorhalten, nicht mehr stellt.
Richtig ist, dass solche Einrichtungen, die allein ich weiterhin als "Bibliothek" bezeichnen möchte, eine andere Bedeutung und Funktion haben werden, als das früher der Fall war, als Bibliotheken noch das Monopol auf öffentlich verfügbare Informationsmittel hatten. Diese andere Funktion wird eine speziellere und eine - gesellschaftlich gesehen - vermutlich auch geringere und leisere sein, als sie die Bibliothek im vordigitalen Zeitalter hatte.
Richtig ist aber auch, dass die allgemeine Digitalisierung und die faszinierenden Möglichkeiten des Internet neue Bedürfnisse nach kulturellen Einrichtungen und Begegnungsorten entstehen lassen. Solche Einrichtungen könnten in der Tat die eingangs genannten skandinavischen “Bibliotheken” sein.
Aber man soll sie bitte nicht "Bibliothek" nennen und meinen, hier liege die Zukunft des Bibliothekswesens.
Diese Einrichtungen sind nicht die Zukunft, sie sind einfach etwas anderes.
Hier weiter von “Bibliotheken” zu reden, führt im Ergebnis dazu, dass die eigentlichen Bibliotheken, die mit den Büchern nämlich, unverantwortlich vernachlässigt werden. Das fängt mit der Pflege einer spezifischen bibliothekarischen Professionalität an, die nicht selten nur noch mitleidig-verächtlich schief von der Seite angesehen wird, geht über die berufliche Ausbildung, in der genuine Buch-Themen praktisch nicht mehr vorkommen, bis hin zur Forschung, die Berufsbibliothekare gerne Historikern und Kulturwissenschaftlern überlassen und sich für deren Ergebnisse dann noch nicht einmal interessieren. Das klassische Bibliothekswissen ist aber mitnichten veraltet und “kann auch nicht weg”, sondern ist bloß für weniger Einrichtungen relevant. Das ist alles.
Und die neuen "Bibliotheken" mit ihren Maker-Spaces? Hier wird man ganz eigene Kompetenzen, Professionalitäten und Fächer brauchen, die kaum aus der Bibliothekswissenschaft, sondern vor allem aus der Bildungs- und der Medienwissenschaft kommen werden.
Übrigens hat die ganze Dikussion um die neue buchbefreite "Bibliothek" zwei blinde Flecke.
Erstens sind Maker-Spaces keine Zukunft, denn in 20 Jahren hat jeder im Keller einen 3D-Drucker stehen, womit der Bibliotheksdrucker in etwa so cool sein wird, wie ein heutzutage ein Brockhaus im Regal, wenn jeder die Wikipedia in der Hosentasche hat. Natürlich könnte man als “trendscout” immer wieder neue hippe Tools, die noch keiner hat, zum allgemeinen “hands on” anbieten. Dann wäre die Zukunft der Bibliothek wohl der Media-Markt mit Starbucks, freiem WLAN und Gruppenarbeitsräumen. Kann man machen. Ist dann aber eigentlich keine Kultureinrichtung mehr. Hier kommen wir zum zweiten blinden Fleck.
Warum diskutieren - im Gegensatz zu Archiven oder Museen, die ja auch vom digitalen Wandel betroffen sind - immer nur die Bibliotheken ihre eigene Abschaffung und Auflösung?
Ich würde eine solche Diskussion übrigens noch stärker in den Volkshochschulen erwarten, denn kaum etwas ist angesichts gewaltiger Selbstlernmöglichkeiten im Internet angestaubter, als Lehrerinnen und Lehrer in Klassenräumen zu festen Unterrichtszeiten. Eigentlich rufen die Selbstlernmöglichkeiten doch geradezu nach Begegnungenräumen, in denen entweder unter professioneller Anleitung oder selbstorganisiert Menschen sich zusammenfinden, um gemeinsam Neues zu erarbeiten. Vermutlich sind die berufsständisch organisierten Beharrungskräfte im Volkshochschulbereich (Stellen, Fördergelder, etc.) noch größer als im Bibliothekswesen, wo man immerhin Veränderungen gegenüber offen ist, auch wenn man dabei vorschnell und ohne Not die eigene Identität aufzugeben bereit ist.
Die neue skandinavische “Bibliothek” jedenfalls ist bei Licht besehen ein Hybrid aus Internet und Volkshochschule mit kuratiertem Medienbestand, zu dem auch eine Bibliothek (ja, als eigene (!) Abteilung) mit Bibliothekaren (ja, als eigener (!) Beruf) gehören sollte.
Das Bibliothekswesen und die Bibliothekswissenschaft sollten daher weniger an der Abschaffung ihrer selbst arbeiten und bücherlose Einrichtungen unkritisch bejubeln, sondern sich zusammen mit anderen Professionen als Teil einer neuen öffentlichen Kultur- und Bildungseinrichtung verstehen, wo es auch noch eine Bibliothek gibt und wo gelernte Bibliothekare nicht meinen müssen, auch alles andere noch en passant zu betreuen und zu managen.