Sie philosophieren über die "Zukunft" der Bibliotheken und benennen sogenannte "Herausforderungen" und "Wandlungen". Die Digitalisierung, die alles verändern und das Ende der Bibliothek, wie wir sie kennen, herbeiführen wird, ist ihr großes Thema. Als Apokalyptiker des gedruckten Buches können sie sich der Aufmerksamkeit der fortschrittlichen Kräfte im Bibliothekswesen sicher sein. Und wer will heute nicht zu den fortschrittlichen Kräften gehören?
Aber: Technik ist kein Imperativ. Und: Die Zukunft ist offen.
Man versetze sich gedanklich doch einmal in die Frühzeit der Telefonie. Was für ein Wunderwerk der Technik! Man kann sich mit Abwesenden unterhalten, ohne das traute Heim verlassen zu müssen. Wer wird denn jetzt noch laute und kostspielige öffentliche Kaffeehäuser aufsuchen, um sich mit anderen zu treffen und sich zu unterhalten. Dem Telefon gehört die Zukunft. Kaffeehäuser braucht niemand mehr. Und wie zur Bestätigung dieser These hatten in den 90er Jahren die großen Ausschankfilialisten Eduscho und Tschibo ihr Geschäftskonzept radikal geändert und die Heißgetränkverkauf abgeschafft.
Dann kam Starbucks. Dort gehen die Leute sehr gerne hin, auch mit ihrem Telefon, aber nicht, um zu telefonieren (eine selten genutzte Funktion übrigens), sondern, um das freie WLAN für diverse Online-Aktivitäten zu nutzen. Oft allein, oft aber auch mit anderen zusammen.
Und was hat das mit Büchern zu tun? Alles! Das kleine Beispiel zeigt nämlich sehr schön, dass technische Möglichkeiten überhaupt keine Rückschlüsse über künftige Entwicklungen erlauben. Das gilt übrigens auch für das Mobiltelefon, das zum Telefonieren erfunden, aber am Ende als mobiles Internet revolutionär wurde. Wie gesagt: Technik ist kein Imperativ.
Der große Fehler aller Vorhersagen und futurologischen Phantasien ist immer, den menschlichen Faktor auszuschalten. Im Bibliothekswesen konnte man das bei der Diskussion um die Mikroform in den 60er und 70er Jahren gut beobachten. Auf die reine “Informationsversorgung” reduziert, ist die Mikroform sicher sehr leistungsfähig. Aber dass sie ganze Bibliotheken als Gebäude überflüssig macht, wie manche geglaubt haben, war falsch. Am Ende hat die Mikroform als Sekundärform für die Langzeitarchivierung ihre kleine Nische gefunden. Das war es aber auch schon.
Wer jetzt nun wissen will, wie die Digitalisierung die Bibliotheken verändern wird, sollte sich nicht mit sogenannten Experten unterhalten, die gerade bei neuen Medien meist einen technokratischen Hintergrund haben, er sollte auch nicht Nutzer befragen, was sie mit neuen Techniken machen wollen.
Wer sich seriös mit der Zukunft von Bibliotheken befassen will, der sollte seinen Blick zurück in die Vergangenheit wenden und sehr sensibel darauf achten, was Menschen mit Büchern tun und warum sie es mit Büchern tun. Er sollte auch den früheren Medienwandel von der Rolle zum Codex und von der Handschrift zum gedruckten Buch studieren.
Wer dann verstanden hat, was Menschen warum mit Büchern tun, der wird einige vorsichtige Annahmen über die Zukunft machen können und dabei eines nicht vergessen: Die Zukunft ist offen!