Donnerstag, 15. Juni 2017

Sargnagel Semesterapparat?!

In den den nächsten zwei Wochen werden in Berlin die entscheidenden Gespräche über das UrhWissG geführt. Man könnte, besieht man sich die öffentliche Diskussion der letzten Zeit, aber auch bloß vom "Elektronische-Semesterapparate-Gesetz" sprechen. Hier scheinen die interessierten Kreise die größten Bauchschmerzen zu haben, wenn nun eine Regelung Gesetz werden soll, die in dieser Form bereits seit 2003 in Kraft ist. Neu sind eigentlich nur ein paar Klarstellungen sowie eine Begrenzung (!) für Forschungsplattformen von aktuell 25% eines Werkes auf 15%.

Ach ja, der vom BGH in das Gesetz hineingelesene Vertragsvorbehalt wird noch gestrichen, der allerdings bereits vom EuGH in seiner Leseplatz-Entscheidung im Grundsatz gekippt wurde. Der Gesetzentwurf reagiert auf diese Rechtsprechung ebenfalls in klarstellender Weise.

Was ist also das Problem? Das Problem ist die angemessene Vergütung für die Nutzung im Semesterapparat. Hier haben die Verlage über die VG Wort bereits zur geltenden Rechtslage jahrelang prozessiert. Dabei wurden immer zwei Forderungen erhoben: Angemessene Lizenzangebote sollen Vorrang haben, und: die Nutzung im Semesterapparat ist einzelfallbezogen zu vergüten.

Da zwischenzeitlich höchstrichterlich festgestellt worden ist, dass Verlage nun einmal keine Urheber sind und daher an den von der VG Wort einzusammelnden Vergütungen nicht beteiligt werden, hat der Streit um die Semesterapparate eine besondere Note bekommen. Im Grunde wollen Verlage nur noch Nutzungen über Lizenzen. Da sehen sie wenigstens Geld. Mit Blick auf eine vielleicht künftig wieder mögliche Beteiligung am VG Wort-Topf und weil man eben den toten Gaul bis zum bitteren Ende reiten will, hält man aber auch noch die Forderung nach Einzelvergütung aufrecht. Eine ziemlich dumme Idee!

Nicht nur, dass ein Rahmenvertrag mit den Hochschulen, der eine Einzelvergütung vorsah, Ende 2016 bereits dankend abgelehnt wurde und man lieber auf elektronische Semesterapparate verzichten wollte, als eine bürokratische Einzelabrechnung vorzunehmen. Auch ein Pilotprojekt an der Universität Osnabrück konnte klar zeigen, dass allein schon der bürokratische Erfassungsaufwand für die Einzelabrechnung zu einer geringeren Nutzung führt. Das alles bedeutet keine oder nur wenige Einnahmen  für Autoren und Verlage.

Nehmen wir einmal an, die Verlage (eigentlich nur die Lobbyisten des Börsenvereins, eine Handvoll mittelständischer Wissenschaftsverlage und die FAZ, gerade die großen Verlage lässt das Thema total kalt) bekämen ihr Räppelchen: Lizenzvorrang und Einzelabrechnung. Was würde passieren?

Ein Lehrender will ein paar Aufsätze und Buchkapitel in seinem Seminar einsetzen. Er muss dann zunächst prüfen, ob die gewünschten Inhalte von einem Verlag angeboten werden. Ist das der Fall, muss er entscheiden, ob die Angebote angemessen sind. Ist das der Fall, muss er nach dem Einscannen die Literatur in einer Meldemaske erfassen und sich darum kümmern, dass genügend Finanzmittel für eine nutzungsabhängige Vergütung zur Verfügung stehen.

Mal ganz ehrlich: Welcher Dozent ist so doof, damit seine Zeit zu verschwenden?!

Er wird im Seminar einfach eine Literaturliste ausgeben. Die gewünschten Titel werden, wie das jahrezehntelang üblich war, in einem gesonderten Regel als "Semesterapparat" aufgestellt. Studierende werden sich die Inhalte kopieren, vermutlich eher scannen (was legal ist) und dann über diverse Dropboxen austauschen (was nicht immer legal ist). Auch hier sehen Verlage keine Vergütung.

Aber stellen wir uns einmal vor, die Inhalte werden tatsächlich in den elektronischen Semesterapparat gestellt und dann einzeln abgerechnet. Jetzt stellt sich in der Hochschule die Frage nach dem Geldtopf. Die Sachmittel des Lehrstuhls? Auf das neue Notebook und oder die Konferenz in Rio wegen der Scans im Semesterapparat verzichten? Nö. Dann doch lieber nur eine Literaturliste ausgeben.

Oder den Bibliotheksetat plündern! Klar, kann man machen. Die einzigen freien Mittel sind dort aber die Mittel für gedruckte Bücher. Dann werden eben ein paar weniger Titel gekauft, vor allem spezielle Wissenschaftsliteratur, nach der ohnehin kaum einer fragt. Das Geld wird dann für Scans aus einer Bachelor-Einführung in stark besuchten Erstsemesterveranstaltungen verbraten. Ob das im Sinne der Wissenschaftsverlage ist, die ja immer betonen, dass sie eine Titelvielfalt bieten, sei mal dahingestellt. Festhalten kann man jedenfalls, dass im besten Fall die Nutzung der Einzelabrechnung in der Praxis mit einem Rückgang der Buchkäufe bezahlt würde.

Hier könnte man einwenden, dass man doch zusätzliche Mittel bereitstellen kann. Hm. Ja. Aber dann gibt es ein neues Problem, das bislang unterschlagen wurde. Geld ist endlich und die Nutzung im Semesterapparat muss verwaltet, also etatmäßig auf die einzelnen Fächer und Dozenten verteilt und auch gedeckelt werden. Hier muss man jetzt über Personal und Personalkosten reden ...

Vermutlich wird aber alles ganz anders kommen.

Anstatt sich den Stress mit der Recherche nach Verlagsangeboten zu machen und Meldemasken auszufüllen, wird unser Dozent ganz einfach auf die an den Hochschulen bereits reichlich vorhandenen digitalen Ressourcen der großen Wissenschaftsverlage, die meist als Paket erworben werden, zurückgreifen. Oder man nimmt gleich freie Inhalte aus dem Netz. Das kommt bei den Studierenden eh besser an und ist gut für die Evaluation.

Wenn man jetzt noch überlegt, dass die Mehrzahl der an deutschen Hochschulen Lehrenden keine Professoren, sondern Lehrbeauftragte ohne eigene Finanzmittel und ohne Hilfskräfte sind, dürfte die Antwort auf die Frage, inwieweit ein elektronischer Semesterapparat mit Verlagsinhalten gefüllt wird, wenn diese einzeln abgerechnet werden müssen, ziemlich eindeutig ausfallen: Wir werden eine weitgehende Nichtnutzung erleben!

Und das wird gerade die kleinen und mittleren Wissenschaftsverlage hart treffen, weil die Dozenten auf vorhandene Digitalinhalte und freie Netzressourcen anstelle eines analogen Semesterapparats in der Bibliothek setzen.

Auch wenn diese Verlage ihre Bücher digital vertreiben, werden sie davon nur bedingt profitieren, denn Dozenten werden sich aus Kostengründen für EIN bestimmtes Lehrbuch entscheiden. Alternative Titel werden nicht genutzt; die müssten ja umständlich einzeln abgerechnet werden, wenn sie wegen eines möglichen Lizenzvorrangs überhaupt genutzt werden können.

Man sollte aber durchaus gerecht zu den Verlagen sein. Sie haben es schwer. Der Medienwandel geht an ihnen nicht spurlos vorüber. Es ist glaubhaft, wenn gerade das Lehrbuch unter Druck gerät. Aber die Zeiten, in denen wissenschaftliche Inhalte immer auch Verlagsinhalte waren, sind mit dem Aufkommen des Internet unwiederbringlich vorbei (http://kapselschriften.blogspot.de/2017/05/binarer-quatsch-ein-verlagsvorrang-im.html). Ein Lizenzvorrang führt daher nicht mehr zum Vertragsschluss, sondern zu Alternativnutzungen. Zudem kann es sein, dass das Konzept "Lehrbuch" mit Blick auf vielfältige digitale Lehrmöglichkeiten vielleicht gar keine Zukunft mehr hat. Wer weiß. Was aber sicher ist: Mit Lizenzvorrang und Einzelabrechnung wird die digitale Nutzung konventioneller Verlagspublikationen unattraktiv. In dieser Form wird der elektronische Semesterapparat zum Sargnagel für kleine und mittlere Wissenschaftsverlage.

Die Politik ist gut beraten, nicht auf das seit Jahren immer gleiche Gerede der Verlagslobby zu hören. 2003, als der elektronische Semesterapparat in § 52a UrhG eingeführt wurde, fürchtete Jürgen Kaube in der FAZ vom 10. April, dass 2006 Verlage wie Klostermann und Mohr Siebeck nicht mehr existieren werden. 2017 gibt es sie trotz der elektronischen Semesterapparat immer noch. Damit ist über den verlagsfreundlichen Alarmismus eigentlich alles gesagt. Damit es auch in zehn Jahre noch kleine Wissenschaftsverlage in Deutschland gibt, sollte der elektronische Semesterapparat - wie im Regierungsentwurf des UrhWissG vorgesehen - ohne Lizenzvorrang und mit pauschaler Vergütung, also nutzerfreundlich geregelt werden. Dann nämlich macht es für Bibliotheken und Dozenten Sinn, auch weiterhin Bücher (!) von den Verlagen zu kaufen, weil man diese in der Lehre auch tatsächlich einsetzen kann. Und die Studierenden von heute sind ja die Wissenschaftler und die Käufer von morgen. Man sollte sie nicht fahrlässig vom Verlagsbuch entfremden!

Es wäre tragisch, wenn der Börsenverein und seine Verbandfunktionäre in zehn Jahren als diejenigen erscheinen werden, die die Totenglocke für die kleinen Wissenschaftsverlage in Deutschland geläutet und Lehrende und Studierende in das Internet vergrault haben. Glücklicherweise kann die Politik das noch abwenden, wenn sie Ende des Monats einfach dem vom Bundeskabinett beschlossenen UrhWissG zustimmt.